100 JAHRE WEIMARER REICHSVERFASSUNG: ÜBERLEGUNGEN ZUR STRUKTUR UND WIRKUNGEN IHRES GRUNDRECHTSKATALOGS
100 YEARS FROM THE WEIMAR CONSTITUTION: REFLECTIONS ON THE STRUCTURE AND EFFECTS OF ITS FUNDAMENTAL RIGHTS CATALOGUE
Artur Ferrari de AlmeidaI
I Alberts-Ludwig-Universität Freiburg, Freiburg, Baden-Württemberg, Alemanha. Mestrando em Direito, E-mail:
arturferraridealmeida@gmail.com
E-ISSN: 2178-2466
DOI: http://dx.doi.org/10.31512/rdj.v19i35.3291
Autor convidado
Inhaltsübersicht: 1 Einleitung. 2 Geschichtliche Einbettung und Entstehung. 2.1 Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts. 2.2 Entstehung. Einteilung, Struktur und Inhalt. 4. Juristische Wirkung. 4.1 Bindungskraft. 4.2 Einschränkbarkeit und Bindung der Legislative. 5 Soziale Grundrechte. 6 Fazit. 7 Literaturverzeichnis.
Zusammenfassung: 100 Jahre nach ihrer Verkündung herrscht in der Öffentlichkeit noch immer ein negatives Bild der Weimarer Verfassung und ihres Grundrechtskatalogs. Nach einer verbreiteten Auffassung entfalteten die Grundrechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung keine juristische Wirkung. Dennoch stimmt diese Sichtweise bezüglich der klassisch-liberalen Grundrechte nicht, da in Weimar nach Wortlaut, Dogmen- und Entstehungsgeschichte die liberalen Freiheitsrechte als aktuelles, geltendes, anwendbares Recht galten. Im Lichte der deutschen Verfassungsgeschichte liegt die Besonderheit der Weimarer Verfassung in der Konstitutionalisierung der sozialen Frage. Die Weimarer Verfassung formulierte ein Sozialstaatsprogramm, dessen Synthese sich in Artikel 151 WRV ausdrückte. Der neue Grundrechtskatalog führte aber nicht zu einem Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung. Die Inanspruchnahme der Grundrechte blieb in den gerichtlichen Verfahren die Ausnahme. Mit der Positivierung der sozialen Grundrechte erstrebte die Nationalversammlung keine judizielle Effektivierung dieser Rechte, sie sollten nicht als einklagbare Ansprüche fungieren, was zu Juridifizierung der politischen Auseinandersetzungen, richterlicher Übernahme der Rollen des Gesetzgebers und der Verwaltung im Bereich der Haushaltspolitik. Die Mütter und Väter der Weimarer Reichsverfassung lehnten das Modell eines justizzentrierten Grundrechtsschutzes ab; sie erstrebten gerade die gegenteilige Konzeption: Grundrechtsverwirklichung durch Volk und Volksvertretungen, nicht gegen Parlamente und Mehrheiten.
Schlusswörter: Grundrechte, Staatszielbestimmungen, Grundrechtseinschränkungen, Grundrechtsbindung der Legislative, Justiziabilität der Grundrechte.
Abstract: One hundred years after its promulgation, a negative view is still dominant about the Weimar Constitution and its catalogue of fundamental rights. According to a widespread reading, the norms concerning fundamental rights in the Weimar Constitution would not carry any legal effectiveness. However, this view is not well founded, for, in light of the literalness of the constitutional norms and of the historical context of its beginning, the rights of liberty were worth as current law, valid and applicable. In light of the German constitutional history, the distinctive note of the Weimar Constitution resides in the constitutionalization of the social question. It formulated a state action program, synthesized in the article 151. The new catalogue of fundamental rights did not give rise to a paradigm shift in judicial activity. The recourse to fundamental rights was exceptional. With the statement of fundamental rights, The National Assembly did not wish for the judicial enforcement of such rights, which did not embody the character of deductible rights in court, in so that it would lead to the juridification on the political disputes and the usurpation by the judges of the Legislative and the Executive in the domain of spending matters.The “Founding Fathers” of Weimar refused a “court-centered model”; they whished for the exact contrary: the realization of fundamental rights by the people and its representatives, not against the Parliament and the majorities.
Keywords: Fundamental Rights, Constitutional Provisions on State Objectives, Restrictions of Fundamental Rights; Fundamental rights as Immediately applicable law, Justiciability of Fundamental Rights.
100 Jahre nach ihrer Verkündung herrscht in der Öffentlichkeit noch immer ein negatives Bild der Weimarer Verfassung. In Bezug auf ihren Zweiten Hauptteil würde das aus dem Jahre 1948 stammende kategorische Urteil Carlo Schmids gegenwärtig vielleicht allgemeine Zustimmung finden, nach dem in Weimar die Grundrechte ein „Anhängsel der Verfassung“ gewesen seien; sie repräsentieren danach „bloß Deklamationen, Deklarationen oder Direktiven“ (SCHMID, 1948, S. 14). Diese Arbeit widmet sich einer Darstellung und Erläuterung des Grundrechtskatalogs von Weimar. Ihr Ziel besteht darin, die damaligen <Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen> zu belichten und zum Verständnis derselben beizutragen.
Zunächst wird die Einbettung des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung in der deutschen konstitutionellen Entwicklung und seine Entstehung in der Nationalversammlung skizziert. Im zweiten Schritt gilt es, Einteilung, Struktur und Inhalt des Zweiten Hauptteils zu schildern. Im dritten Schritt wird die juristische Wirkung der Normen des Zweiten Hauptteils, das heißt, die Problematik der Bindungskraft von klassisch-liberalen Grundrechten in der Weimarer Reichsverfassung behandelt. Danach wird etwas ausführlicher auf die sozialen Grundrechte eingegangen, da diese eine Besonderheit der Weimarer Reichsverfassung darstellten. In einem Fazit wird versucht zu zeigen, inwiefern das <Experiment Weimar> Erträge für die Grundrechtstheorie und die Grundrechtsdogmatik unter dem Grundgesetz hervorgebracht hat.
2 Geschichtliche Einbettung und Entstehung
2.1 Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts
Es erscheint sinnvoll, die Rechtsgeltung und Funktionen der Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem darzustellen, bevor man sich mit dem Zweiten Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung beschäftigt. Hierdurch werden Pfadabhängigkeiten und Spurenelemente im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, die in der Weimarer Zeit eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, identifiziert. Mit Ausnahme der gescheiterten Paulskirchenverfassung von 1848, die niemals in Vollzug gesetzt worden ist, fand die Bezeichnung Grundrechte in den Verfassungstexten des 19. Jahrhunderts keine Verwendung (WAHL, 2003, S. 357). Es gab damals keine auf die Volkssouveränität gestützten Grundrechte des Volkes, sondern lediglich Rechte der Untertanen; Deutschland war in dieser Hinsicht weit entfernt von dem Modell der Virginia Bill of Rights und der französische Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789, die Formulierungen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung und Prinzipien für die politische Konstitution enthielten, insbesondere die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Grundrechte (WAHL, 2003, S. 357). In den Worten von Rainer Wahl: “Den Rechten der Badener, Bayern und Preußen fehlt das Pathos von Rechten, die das Volk selbst erkämpft und sich selbst gegeben hat, von Rechten, die die Grundlage des Staates ausmachen, den Staat von innen formen. Auf ein solches Pathos hätten sich die Verfassungspraxis und die Politik auch und gerade dort stützen können, wo rechtliche Bindungen nicht bestanden” (WAHL, 2003, S. 343-344).
Die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts stellten ein Arbeitsprogramm für die Legislative dar. Musterhaft spricht Ulrich Scheuner in diesem Sinne von einem <Direktiv- und Richtliniencharakter der Grundrechte> (SCHEUNER, 1978, S. 633). Das Parlament sollte die alte Rechtsordnung umgestalten, damit die staatsbürgerliche Gesellschaft erreicht werden konnte. Es hatte somit zwei Hauptaufgaben: i) die gesetzlich Abschaffung ständisch-feudaler Rechte und der polizeistaatlichen Freiheitsbeschränkungen; und ii) die Ausgestaltung der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung durch Erlass bedeutender Gesetze (GRIMM, 1987, S. 316). Eine abwehrrechtliche Funktion von Grundrechten war nur vorstellbar, falls Gesetze zur Abschaffung der ständisch-feudalen und polizeistaatlichen Ordnungen erlassen worden wären. Das Nichttätigwerden des Parlaments kam der Freiheit nicht zugute, sondern das Gegenteil war der Fall (WAHL, 2003, S. 357)
Im 19. Jahrhundert verfügten damit die Grundrechte über eine sehr beschränkte juristische Tragweite; sie entfalteten keine Bindungswirkung für den Gesetzgeber (LÜBBE-WOLFF, S. ٤١١-٤١٣, ٤٢٣). Die jeweiligen Verfassungen enthielten Verweisungen auf zukünftige Gesetzgebungsakte, die als Verheißung und Programm bewertet wurden. Um rechtliche Wirklichkeit zu werden, bedurften die Grundrechte einer interpositio legislatoris. Die einzige zweifellose Auswirkung der Grundrechte war die Bindung der Verwaltung, was zu einer Gleichsetzung mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Überflüssigkeit des grundrechtlichen Kataloges führte.
Tatsächlich kamen die Grundrechte in der einfachen Gesetzgebung zur Geltung. Diese Tendenz hat sich in der Reichsverfassung von 1781 dahingehend zugespitzt, dass diese auf einen Grundrechtskatalog im verfassungsrechtlichen Rang verzichtete. Nur die Verfassungen der Einzelstaaten, also die Landesverfassungen enthielten Grundrechtsbestimmungen, die hiermit im Range unter dem Reichsrecht standen. Die mutmaßliche Rechtfertigung für diesen Bruch der Bismarckverfassung bestand in einem Zuständigkeitsargument: die eingreifende Staatsgewalt sei Landessache. Aber nicht nur bildete sich allmählich eine selbstständige Eingriffsgewalt des Reiches heraus, sondern offenbarten sich Koordinierungsmaßnahmen der Reichsebene im Bereich der Anerkennung und Gewährleistung von Grundrechten als unvermeidbar. In diesem Kontext wurde der Grundrechtsschutz durch die einfachen Reichsgesetze verwirklicht. Ernst Huber bezog sich auf das Gesamtsystem der Reichs-Grundrechte, das durch die einfache Bundes- und Reichsgesetzgebung entfaltet wurde. Grundfreiheiten wie die Freizügigkeit, Gewerbe-, Koalitions-, Bekenntnis-, Justiz-, Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, unter anderen, besaßen den Rang einfacher Gesetze im Verfassungssystem des Bimarckschen Reichs (HUBER, 1973, S. 167-170).
Nach einer Grundhaltung des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts zehrte die geschriebene Verfassungsurkunde nicht das Verfassungsrecht auf, da auch diejenigen Normen Verfassungsstatus hatten, die “im allgemeinen Bewußtsein ein konstitutives Element der politischen Ordnung des Reichs” verkörperten. Dementsprechend gehörten die Grundrechte zum materiellen Verfassungsrecht, zu den grundlegenden Teilen des Reichsverfassungsrechts, die außerhalb der Verfassungsurkunde lagen. Das Parlament agierte durch die Anforderung der gesetzgeberischen Zustimmung für Eingriffe in Freiheit und Eigentum als <Hüter der Grundfreiheiten>. Das konstitutionelle Freiheitssystem stützte sich auf den Sinn für Recht, Gerechtigkeit und Billigkeit des Parlaments in der Annahme “der Legitimität der staatlichen Rechtsetzungsmacht durch ein funktionsfähiges parlamentarisches Legalitätssystem” (HUBER, 1973, S. 163-165, 171).
Als Zwischenbilanz ist somit festzuhalten: Im 19. Jahrhundert spielten die Grundrechte eine politische Funktion, die keine entsprechende juristische Formulierung bekam. Sie wurden nicht als <judiziell durchsetzbare Rechte> charakterisiert und angewandt; sie wandten sich nicht gegen den Gesetzgeber (LÜBBE-WOLFF, 1990, S. 423). Der Grundrechtsschutz des Bismarckschen Reichssytems hing nicht von der formellen Geltungskraft der Grundrechtsbestimmungen ab, seine Pfeiler waren vielmehr das Grundrechtsbewußstein der öffentlichen Meinung und das Erfordernis parlamentarischer Zustimmung für Eingriffe in Freiheit und Eigentum. Selbstverständlich war dieses Parlament noch nicht auf der Basis der Volkssouveränität strukturiert. Im Unterschied zur Weimarer Zeit war die Volksvertretung unter dem Kaiserreich kein Teilhaber an der Staatsgewalt. In der Legislative entfalte sich eine <Vertretung der Gesellschaft beim Staat>, da die bürgerliche Gesellschaft lediglich ein Recht auf Mitsprache besaß (GRIMM, 1992, S. 7; 1987, S. 152). Diese Umstände beeinflussten das Grundrechtsverständnis und führte gleichzeitig zu einer Geltungsschwäche der politischen Grundrechte und zu einem Durchbruch zu bürgerlicher und politischer Freiheit (WAHL, 2003, S. 373).
2.2 Entstehung
Im Januar 1919 – nachdem die Novemberrevolution von 1918 zum Sturz der Monarchie geführt hatte – wurde in Deutschland eine Nationalversammlung gewählt, um eine neue Verfassung zu beraten und zu beschließen. In der Tat wurde schon im November 1918 dem Staatsrechtler Hugo Preuß von der provisorischen Regierung der Volksbeauftragten die Aufgabe anvertraut, einen Entwurf der Verfassung auszuarbeiten. In Anlehnung an die Grundrechtsvorstellung des Bismarckschen Reichssystems, und um Verzögerung in den Arbeiten der Nationalversammlung zu verhindern, wollte Preuß, dass die Weimarer Verfassung keinen Grundrechtsteil enthält. Aus diesem Grund hat er dafür plädierte, die mittlerweile durchgeführte Grundrechtspositivierung auf der Gesetzesebene aufrechtzuerhalten (KÜHNE, 2015, S. 244): „für das Mehr oder Weniger von Kompromissen ist die gesetzliche Einzelregelung ein günstigerer Boden als die Aufstellung von Grundrechten, bei denen wegen ihrer abstrakten Allgemeinheit allzu leicht die Gegensätze oder Doktrinen mit eigensinniger Härte aufeinander stoßen“ (PREUß, 1923, S. 91; 2006, S. 397). Der Wille Preußs konnte sich nicht gegen Vertreter aller Parteien durchsetzen, weswegen sich die Verfassung nicht auf ein bloßes Organisationsstatut beschränkte (POSCHER, 2000, S. 25; GUSY, 2018, S. 272).
Doch alle Fraktionen haben versucht, die Aufnahme grundrechtlicher Bestimmungen zu fördern, die ihre Weltanschauungen widerspiegelten. Da die politischen Lager zu keinem Konsens führten, wurden die unterschiedlichen Standpunkte in der Verfassung nebeneinandergestellt. Als Ergebnis dieser Uneinigkeit bezog der Zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung „höchst unterschiedliche Verfassungserwartungen und Gestaltungsideen“ ein (GUSY, 1997, S. 272). Der Ausdruck <Interfraktionelles Parteiprogramm> entstand schon im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung, um den Mischcharakter des Zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung deutlich zu machen. In diesem Zusammenhang teilte Preuß im Plenum der Nationalversammlung seine Ablehnung der Rolle, Vater der Grundrechte zu sein, mit (GUSY, 2018, S. 238). Ungeachtet der Kritik und Zurückhaltung innerhalb der Nationalversammlung hat sich die Weimarer Reichsverfassung schon bei ihrer Verabschiedung als „Muster einer modernen, auf die Bedürfnisse des zwanzigsten Jahrhunderts zugeschnittenen demokratischen Verfassung“ (GRIMM, 1999, S. III) und als „einer der fortschrittlichsten Schöpfungen ihrer Zeit“ (MOSLER, 1988, S. 66) erwiesen.
Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erreichte die sogenannte Weimarer Koalition – die aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Zentrumspartei bestand – 331 von 421 Mandaten, sprich 76,2 Prozent der Stimmen. Da es innerhalb der Koalition inhaltliche Meinungsverschiedenheiten gab, konnten sich die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) mit der DDP und der Zentrumspartei in einigen Themenbereichen erfolgreich alliieren, um Kompromisslösungen zu erreichen. Auf diese Weise erreichten die Oppositionsparteien, dass die Weimarer Verfassungsgebung ihr verfassungsrechtliches Bild mitberücksichtigte (KOUTNATZIS, 2010 S. 142-143).
Die Weimarer Verfassung entstand als ein <überparteilicher Kompromiss> und ihr Inhalt drückte einen <Kompromiss der Werte> dadurch aus, dass unterschiedliche politische Auffassungen und soziale Anliegen verfassungsrechtlich aufgenommen wurden (HUBER, 1981, S. 21 ff). Zwei rivalisierende Grundrechtsvorstellungen waren verschmolzen: auf der einen Seite erkannte die Verfassung die wirtschaftliche Freiheit und das Eigentum an; auf der anderen Seite wurden diese Grundrechte zugunsten der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle bzw. im Dienste des Gemeinwohls funktionalisiert. Es herrschte ein Konsens innerhalb der Nationalversammlung, die sich gegen eine reine Übernahme der liberalen Grundrechtskonzeption aussprach (KIRCHHEIMER, 1964, S. 30).
Am 14. August 1919 wurde die Weimarer Reichsverfassung verkündet. Es war die erste republikanische Verfassung der Deutschen, von gewählten Vertretern des Volkes beschlossen und in Kraft gesetzt. Im Vergleich zu den deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts verfügte die Weimarer Reichsverfassung über eine herrschaftskonstituierende Eigenschaft; mit ihrer Inkraftsetzung wurde die Parlaments- beziehungsweise Fürstensouveränität durch Volkssouveränität ersetzt, mit ihr kam die Rivalität zweier Legitimationsprinzipien zum Ende. In diesem neuen Kontext und im Vergleich zum Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts spielten die Grundrechte eine ganz andere Rolle; insbesondere warfen sie ungewohnte Probleme auf: tatsächlich entstand mit der neuen Verfassung ein neuartiges und unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten auf der einen Seite und den demokratisch legitimierten Institutionen – Parlament, Regierung und Verwaltung – auf der anderen Seite (POSCHER, 2000, S. 26).
Dieses Spannungsverhältnis spiegelte sich im Staatsorganisationsrecht beziehungsweise in der Kompetenzverteilung zwischen Judikative und Legislative wieder, und hatte so bahnbrechende politische Implikationen, dass konservative Staatsrechtler eine durchgreifende gerichtlich überprüfbare Grundrechtsbindung des Gesetzgebers vertraten, um eine Übermacht des Parlaments zu verhindern, während die demokratischen Juristen besorgt waren, dass die Anerkennung eines richterlichen Prüfungsrechts zu einem Übergriff der Justiz auf die gesetzgebende Gewalt führen könnte - eine nicht zu unterschätzende Besorgnis, wenn man die soziale Herkunft und die politische Orientierung der damaligen Richter mitberücksichtigt.
3 Einteilung, Struktur und Inhalt
Wie schon erwähnt, beschränkte sich die Bismarcksche Verfassung auf das sogenannte Staatsorganisationsrecht, sie erwies sich als bloßes Organisationsstatut, und mithin mangelte es der Verfassung von 1871 an substantiellen Entscheidungen hinsichtlich der sozialen Ordnung. Juristisch betrachtet bedeutete dieses Sich-Festklammern an staatsorganisatorischen Normen eine Entlastung der staatlichen Organe, die damit ausschließlich Verfahrensregeln beachten mussten (GRIMM, 1987, S. 153, 160). Die Weimarer Verfassung beschritt auch in diesem Punkt einen entgegengesetzten Weg, da der politische Spielraum der drei Gewalten durch die materiellen Maßstäbe des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung beträchtlich begrenzt wurde.
Der Zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung hieß <Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen> und bestand aus 57 Bestimmungen, welche in fünf Abschnitte gegliedert waren, und zwar: i) Die Einzelperson; ii) Das Gemeinschaftsleben; iii) Religion und Religionsgesellschaften; iv) Bildung und Schule; und v) Das Wirtschaftsleben. Diese Einteilung sprach aber keinen juristischen Systematisierungsversuch aus, es handelte sich vielmehr um eine krude Themenbereichsaufteilung, sodass sich etwa klassische Freiheitsgrundrechte und soziale Grundrechte im fünften Abschnitt vermischten (DREIER, 2004, Rn. 11). Der Erste Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung enthielt ebenfalls Grundrechte, wie das Wahlrecht (Art. 22 WRV) und die sogenannten Justizgrundrechte (Art. 102 und 105 WRV). Der Zweite Hauptteil regelte nicht nur Grundrechte und Grundpflichten, sondern auch Staatszielbestimmungen (z. B. Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins – Art. 151 Abs. 1 Satz 1 WRV), Gesetzgebungsaufträge (z. B., die Schaffung einer einheitlichen Arbeitsrecht – Art. 157, Abs. 2 WRV) und symbolische Feststellungen (z. B. Schutz und Pflege der Denkmäler – Art. 150 WRV). Inhaltlich betrachtet war der Zweite Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung ein Novum, in dem „ein Nebeneinander von klassischen Abwehrrechten, politischen Programmsätzen, institutionellen Garantien und Institutsgarantien, Fundamentalnormen einerseits und zeitgebundener Detailregelung andererseits“ gebildet wurde (STOLLEIS, 1999, S. 91).
Zu dem Weimarer Grundrechtskatalog gehörten zunächst klassisch-liberale und politische Rechte, die die Nationalversammlung bei der Gestaltung des Zweiten Hauptteils als <Ausgangspunkt> nahm, und zwar, unter anderen: Wahl-, Meinungs-, Vereinigungs-, Versammlungs-, und Religionsfreiheit, Briefgeheimnis, Freiheit der Person, Freizügigkeit, Eigentumsgarantie, Freiheit von Wissenschaft und Kunst sowie die Justizgrundrechte. Für diese klassisch-liberalen Grundrechte in der Weimarer Verfassung dienten die Paulskirchenverfassung (1849) und die preußischen Verfassungen (1848-1850) als Vorbild (STOLLEIS, 1999, S. 89). Im Kaiserreich waren diese Rechte in einfachen Reichsgesetzen verbürgt (HUBER, 1973, S. 168-169).
Ferner nahm der Zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung als Fortwirkung einer deutschen konstitutionellen Tradition Grundpflichten auf (HOFMANN, 1983, S. 58 ff.), und zwar: a) die Erziehungspflicht der Eltern (Art. 120); b) die Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten (Art. 132); c) persönliche Dienstleistungspflichten (Art. 133); d) die Sachleistungspflicht (Art. 134); e) die Schulpflicht (Art. 145); f) die Sozialpflicht des Eigentums (Art. 153 Abs. 3); g) die Bodennutzungspflicht der Grundbesitzer (Art. 155 Abs. 1); und h) die sittliche Pflicht der Betätigung der geistigen und körperlichen Kräfte zum Wohl der Allgemeinheit (Art. 163) . Zu diesem Punkt vertrat Richard Thoma die These, dass es eine <einzige rechtliche Grundpflicht> gäbe, namentlich „die Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Rechtsnormen und den normgemäßen Staatsakten“ (THOMA, 1929, S. 29). Allerdings schufen die Grundpflichten nach herrschender Auffassung kein unmittelbar anwendbares Recht, sodass sie Verfassungskonkretisierung durch Gesetze bedurften, um Rechtskraft zu erlangen (GEBHARD, 1932, S. 445). Sie besaßen eine bloße Interpretationsfunktion, eine den <Liberalismus mildernden Wirkung> (SCHMITT, 1958, S. 217). Letztendlich widmete die Staatsrechtslehre der Grundpflichtenkategorie keine besondere Beachtung (MEINEL, 2007, S. 247).
Neben klassisch-liberalen Rechten und Grundpflichten bestand der Zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung aus sozialen Grundrechten. Schon die Weimarer Präambel wies darauf hin, dass das deutsche Volk sich die Verfassung gegeben hatte, um <den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern>. Im Lichte der deutschen Verfassungsgeschichte liegt die Besonderheit der Weimarer Verfassung eben in der Konstitutionalisierung der sozialen Frage, die durch die Erweiterung des Grundrechtskatalogs jenseits klassisch-liberaler Freiheitsrechte und die Einrichtung einer Wirtschaftsverfassung gelang. In diesem Sinne muss es darauf hingewiesen werden, dass der Staatsinterventionismus schon in 1879 mit der bismarckschen neuen Wirtschaftspolitik eingeführt wurde (GRIMM, 1987, S. 150). Vor 1919 waren aber die Sozialpolitik und die staatliche Verteilungsaufgabe nicht in der Verfassung verankert (GRIMM, 1987, S. 153; STOLLEIS, 2001, S. 253 ff.; MEINEL, 2015, S. 51). Die Konstitutionalisierung des Interventionsstaates bedeutete, dass die Verfassung Standards für Aufbau und Regulierung des Sozial- und Wirtschaftslebens stipulierte; es handelte sich um einen Verfassungsversuch der Umgestaltung der <gesellschaftlichen Güterverteilung> und der <Bedingungen ihrer Erzeugung> (MEINEL,2007, S. 25-26).
Die Weimarer Verfassung formulierte ein <Sozialstaatsprogramm>, dessen Synthese sich in Artikel 151 WRV ausdrückte (HUBER, 1981, S. 1026 ff.). Nach dieser Vorschrift müsse die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. Dennoch brachte das Projekt des Weimarer Sozialstaates keine Überwindung der liberal-individualistischen Grundrechte mit sich. Im Gegenteil handelte es sich darum, die faktischen Möglichkeitsbedingungen der Ausübung der klassischen Freiheitsgrundrechte einzurichten. Der bürgerliche Rechtsstaat entwickelte sich dann mittels der Weimarer Verfassung zu einem sozialen Rechtsstaat weiter.
Darüber hinaus hatte der Weimarer Grundrechtskatalog soziale Grundrechte zum Inhalt, die ein positives Handeln durch den Staat erforderten, namentlich: a) ausgleichende Fürsorge zugunsten kinderreicher Familien (Art. 119 Abs. 2 WRV); b) Schutz und Fürsorge des Staates für die Mütter (Art. 119 Abs. 3 WRV); c) Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen, insbesondere durch Leistung von Erziehungsbeihilfen (Art. 146 Abs. 3 WRV); d) Sicherung einer gesunden Wohnung für jeden Deutschen, und für alle deutschen Familien, besonders die kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte (Art. 155 Abs. 1 WRV); e) Schaffung eines umfassenden Versicherungswesens zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens (Art. 161 WRV); f) Sorge für den notwendigen Unterhalt im Fall eines Mangels an angemessener Arbeitsgelegenheit (Art. 163 Abs. 2 WRV).
Die Weimarer Verfassung behandelte auch die Problematik der gesellschaftlichen Macht. In Deutschland fand zwischen den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkrieges wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel statt, womit eine Entwicklung vom Agrarland zu einem hochindustrialisierten Land einherging (BORN, 1963, S. 451). Durch Besitzakkumulation entstanden neue wirtschaftlich-soziale Machtverhältnisse, die den Genuss realer Freiheit verhinderten. Die rechtlichen Freiheiten zeigten sich für diejenigen, die über keine <besitz- und bildungsmäßigen Voraussetzungen> verfügten, als <leere Form> (BÖCKENFÖRDE, 1992, S. 148). Der Staat musste demnach <Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht> leisten (BÖCKENFÖRDE, 2006, S. 74). Verschiedenen Verfassungsnormen des Zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung lag die Idee zugrunde, dass Freiheitsbedrohungen nicht nur vom Staat ausgingen. Die Weimarer Verfassung umfasste in dieser Richtung Vorschriften, nach der: a) die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen nur in den Grenzen der Gerechtigkeit und eines menschenwürdigen Daseins für alle gesichert ist; b) der Gebrauch des verfassungsrechtlich gewährleisteten Eigentums im Dienste des Gemeinwohls steht (Art. 153 Abs. 1 und 3 WRV); c) die Arbeitskraft unter dem besonderen Schutz des Reichs steht (Art. 158 WRV); d) die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen für jedermann und für alle Berufe gewährleistet ist (Art. 159 WRV); e) der Staat die missbräuchliche Verteilung und Nutzung des Bodens verhindert, und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung zu sichern (Art. 155 WRV); f) den selbständigen Mittelstand zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen (Art. 164 WRV); g) Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern (Art. 146 Abs. 3 WRV).
Was die justizielle Durchsetzung der Grundrechte angeht, wurden einerseits Klassische Justizgrundrechte – wie das Verbot von Ausnahmegerichten und der Anspruch auf den gesetzlichen Richter – auf Verfassungsrang gehoben. Andererseits wurden Gerichtszuständigkeiten, Verfahrensart und prozessuale Voraussetzungen im Grundrechtsbereich im Verfassungstext nicht explizit behandelt. Neben der Errichtung des Staatsgerichtshofs und der Verwaltungsgerichte sorgte der Justizabschnitt (Art. 102-108 WRV) für Kontinuität. Mit der Weimarer Verfassung erlebte die Judikative aus einer verfassungsprozessrechtlichen Perspektive keinen Umbruch. Uneinigkeit innerhalb der Nationalversammlung verhinderte darüber hinaus die ausdrückliche Aufnahme des Prüfungsrechts gegenüber den Reichsgesetzen, das sich im Laufe der Weimarer Republik immer als umstritten erwies. Kein Rechtsbehelf in Form der Verfassungsbeschwerde wurde eingeführt. Als Individualrechtsschutz gegen Grundrechtsverletzungen standen immer noch die ordentlichen Rechtsbehelfe bei den Fachgerichten zur Verfügung (GUSY, 1997, S. 244, 249-250).
In diesem institutionellen Zusammenhang führte der neue Grundrechtskatalog nicht zu einem Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung. Die Inanspruchnahme der Grundrechte blieb in den gerichtlichen Verfahren die Ausnahme. Die <Grundrechtsdurchsetzung durch Gerichte> war selektiv, oberflächlich und ineffektiv (GUSY, 2018, S. 250-251). Die Entscheidungspraxis veränderte sich nicht: Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts berücksichtigten den Einfluss der Grundrechte nicht ausreichende. In Weimarer Republik ist ein Denken von den Grundrechten her nicht zustande gekommen.
4 Juristische Wirkung
4.1 Bindungskraft
Nach einer verbreiteten Auffassung entfalteten die Grundrechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung keine juristische Wirkung. Der Zweite Hauptteil dieser Verfassung hätte folglich nur Programmsätze und Gesetzgebungsaufträge zum Inhalt gehabt. Dennoch stimmt diese Sichtweise bezüglich der klassisch-liberalen Grundrechte nicht (GUSY, 1997, S. 280-281; POSCHER, 2000, S. 26; DREIER, 2004, Rn. 12-27; JESTAEDT, 1999, S. 98, Fn. 114). Wurden diese doch von der Nationalversammlung, der Wissenschaft und der Judikatur als verbindliche Rechtssätze ausgewiesen. In Weimar galten nach Wortlaut, Dogmen- und Entstehungsgeschichte die liberalen Freiheitsrechte als aktuelles, geltendes, anwendbares Recht.1
Die Weimarer Verfassung enthielt zwar keine Vorschrift, die wie Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich die Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte anordnete. Innerhalb des Verfassungsausschusses wurde der Versuch unternommen, die Grundrechtsverbindung explizit in den Verfassungstext niederzuschreiben. Der fünfte Verfassungsentwurf enthielt eine Vorschrift, nach der die Grundrechte und Grundpflichten „Richtschnur und Schranke für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege im Reich und in den Ländern“ bilde. Diese Regelung wurde aber wegen Meinungsverschiedenheiten über ihre Rechtswirkungen gestrichen (GUSY, 1997, S. 281; DREIER, 2004, Rn. 8; GUSY, 2018, S. 241). Die Nationalversammlung ließ die Frage verfassungstextlich offen.
Immerhin hat sich die Weimarer Grundrechtsdogmatik daran orientiert, dass die Frage der Bindungskraft der Grundrechte angesichts der Verschiedenheit der Bestimmungen des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung nach keiner pauschalen Lösung streben sollte (SCHMITT, 1958, S. 218). Von Fall zu Fall, von Norm zu Norm besteht die Hauptaufgabe der Lehre darin, die unmittelbar anwendbaren Rechtsvorschriften von den Programmsätzen abzugrenzen (GUSY, 1997, S. 281; DREIER, 2004, Rn. 14). In diesem Sinne hat Thoma die folgende Vermutungsregel entwickelt: wenn Wortlaut, Dogmengeschichte und Entstehungsgeschichte keine eindeutige Auslegung ermöglichen, soll diejenige Auslegungsalternative den Vorzug genießen, die die juristische Wirkungskraft der entsprechenden Grundrechtsvorschrift <am stärksten entfaltet>; das heißt: in dubio pro Grundrechte als verbindlicher Rechtssatz, nicht als <politisch-ethische Empfehlung> (ANSCHÜTZ, 1965, S. 515).
Die Bindungskraft der Freiheitsgrundrechte, besonders derjenigen, die keine Einschränkungsklausel hatten, stand so außer Frage. Sogar Grundrechtsbestimmungen, die keinen Bestandteil des traditionellen Grundrechtskataloges bildeten, wurden von der herrschenden Meinung als <Rechtssätze im engeren und strengen Sinne> anerkannt.2
4.2 Einschränkbarkeit und Bindung der Legislative
Das Einschränkungsregime war die Achillesferse des Grundrechtssystems in der Weimarer Verfassung. Auf der einen Seite wurden in zahlreichen Verfassungsbestimmungen ausdrückliche Einschränkungs-, Beschränkungs-, Beeinträchtigungs- und Entziehungsermächtigungen der Grundrechte eingeführt.3 Auf der anderen Seite hatte die Weimarer Verfassung keine Schranken-Schranken-Klausel und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fand zu jener Zeit noch keine Formulierung auf der Ebene der Grundrechtstheorie und keine richterliche Anwendung in der Grundrechtspraxis (DREIER, 2018, S. 187-188).
Hinsichtlich der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte, differenzierte die herrschende Meinung innerhalb der Weimarer Reichsverfassung zwischen <drei Wirkungsgraden grundrechtlicher Garantien>, und zwar: 1. Reichsverfasssungskräftigen Grundrechten; 2. Reichsgesetzkräftigen Grundrechten; 3. Sonstigen Grundrechten, die durch Reichs- und Landesgesetze einschränkbar waren (DREIER, 2004, Rn. 26). Die Reichsverfasssungskräftigen Grundrechte enthielten keinen Gesetzesvorbehalt, deswegen erlaubte die Verfassung den Zugriff auf diesen Rechte nur durch verfassungsänderndes Gesetz. Art. 76 der Weimarer Verfassung verlangte dabei eine Zweidrittelmehrheit für verfassungsändernde Gesetze, was wegen der damaligen Machtverhältnisse sehr schwer zu erreichen war. Die Reichsgesetzkräftigen Grundrechte konnten ausschließlich durch Reichsgesetze eingeschränkt werden, sodass sich gegenüber den Landesgesetzgebern eine Sperrwirkung entwickelte. Schließlich unterlagen die sonstigen Grundrechte einer <prinzipiell unbegrenzten Einschränkbarkeit durch den Gesetzgeber> (GUSY, 2018, S. 282), das heißt, waren sie durch Reichs- und Landesgesetze einschränkbar. Die Grundrechte, die zu den Kategorien der reichsverfasssungskräftigen und reichsgesetzkräftigen Grundrechten gehörten, banden zweifellos den Landesgesetzgeber als lex posterior und als lex superior. Das Reichsgericht hat in diesem Zusammenhang mehrmals die Verfassungswidrigkeit von Landesgesetzen wegen Verstößen gegen klassisch-liberale Grundrechte erklärt (HENSEL, 1929, S. 9 ff.).
Das Problem des grundrechtlichen Einschränkungsregimes in der Weimarer Verfassung lag darin, dass es nach herrschender Lehre keine substanzielle Grenze kannte. Was reichsverfasssungskräftige Grundrechte angeht, hatte die Verfassung keine Ewigkeitsklausel, so konnte der ganze Grundrechtskatalog theoretisch aufgehoben werden.4 Außerdem waren die Reichsgesetzkräftigen und sonstige Grundrechte von Reichs- und Landesgesetzgeber <bis zur Bedeutungslosigkeit> einschränkbar (DREIER, 2004, Rn. 29; 2018, S. 186, 187-188). Die Weimarer Verfassung formulierte keine ausdrückliche Anforderungen an den Gesetzgeber, die er bei der Einschränkung von Grundrechten durch Gesetz berücksichtigen musste.
Trotz fehlender textueller Anknüpfungspunkte hatte sich ein Teil der Staatsrechtslehre darum bemüht, <Einschränkungen dieser Einschränkungsmöglichkeiten> zu rechtfertigen und zu erörtern (LÜBBE-WOLFF, 1990, S. 423). In dieser Richtung formulierte Carl Schmitt das sogenannte <Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaats>. Die Anerkennung der Grundrechte als <Sphären der Freiheit> des Individuums gegen den Staat bedeutet einen „prinzipiell unkontrollierten Spielraum der individuellen Freiheit“, eine „prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des Einzelnen und eine prinzipiell begrenzte, meßbare und kontrollierbare Eingriffsmöglichkeit des Staates“. Mit dieser Begründung wendete sich Schmitt gegen die Idee von Grundrechtsgeltung nach Maßgabe der Gesetze. Der ausnahmsweise, begrenzte und messbare Eingriff des Gesetzgebers setze notwendigerweise einen verfassungsrechtlichen Grundrechtsinhalt voraus (SCHMITT, 1993, S. 163-164, 166).5 In dieser Richtung kritisierte Albert Hensel 1929 die Rechtsprechung des Reichsgerichts und plädierte für die gerichtliche Formulierung strengerer Anforderungen an den Gesetzgeber, sodass es zu erheblichen Gesetzesvorbehalt widerrief. Ausgehend von einer substantiellen Sichtweise sollte das Gericht überprüfen, ob „eine bestimmte Norm noch als zulässige Ausnahme von der Grundrechtsregel gelten kann“ (HENSEL, 1929, S. 32).6
Ein anderer theoretischer Ansatz zur Verringerung der gesetzgeberischen Einschränkungskompetenz im Bereich des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung wurde von Schmitt die Lehre von den institutionellen Garantien konzipiert, die einen Schutz gegen <Mißbrauch der Gesetzgebungszuständigkeit> ausdrückten (SCHMITT, 1993, S. 180). Die Theorie, die 1923 von Martin Wolff zum Eigentumsgrundrecht herausgebildet (WOLFF, 1923, S. 3-30) aber von Schmitt auf andere Bestimmungen des Zweiten Hauptteils übertragen wurde, stieß auf große Resonanz in der Weimarer Staatsrechtslehre (GUSY, 1997, S. 278). Mit den institutionellen Garantien hatte die Staatsrechtslehre erstmalig substantielle Standards für die Legislativtätigkeit entwickelt (MEINEL, 2007, S. 251). Die Verfassung verbietet nicht nur ihre Abschaffung, sondern diejenige Ausgestaltungsvariante der Instituten, die mangels <typischer Merkmale> eine Verletzung ihres Wesensminimums einbezog. Demgemäß plädierte etwa Richard Thoma, dass „die Reichsverfassung das Institut selbst, d.h. ein Minimum dessen, was sein Wesen ausmacht, unbedingt verankern“ müsse (THOMA, 1929, S. 31). Das Verbot von Ausnahmegerichten, die Ehe, das Beamtentum, die kommunale Selbstverwaltung, die Sonntagsruhe, das Eigentum, die Wissenschaft, der Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten wurden damit gegen die legislative Aufhebung bzw. Unterminierung abgeschirmt. Es handele sich um eine <verfassungsmäßige Sicherung> dem Gesetzgeber gegenüber (ANSCHÜTZ, 1965, S. 706 ff.). Schmitt bezog sich in diesem Zusammenhang auf eine <Festlegungs-(Stabilisierungs, Fixierungs-, Konfirmierungs-)funktion> der Sätze des zweiten Hauptteils, wodurch sich die zitierten Bestimmungen gegen die Legislative wandten und deren Kompetenzen einengten (SCHMITT, 1958, S. 227). Die Übernahme der Lehre von den institutionellen Garantien unterstellte eben die Anerkennung der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte: „entweder ist der Gesetzgeber gebunden und hat dann nicht mehr „völlig freie Hand“, oder er hat völlig freie Hand, dann kann man nicht mehr von einer Bindung sprechen“ (SCHMITT, 1958, S. 146).
Schließlich argumentierte die Staatsrechtslehre – mit der nachfolgenden Bestätigung durch das Reichsgericht – innerhalb der Dogmatik der Meinungs- und Religionsfreiheit (Art. 118 Abs. 1, 135 Satz 3 WRV) gegen vollen Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei der Einschränkung dieser Grundrechte. Beide Grundrechte erlaubten Einschränkungen nur innerhalb der Grenzen der allgemeinen Gesetze. Insofern wurden Spezial- bzw. Sondergesetze als verfassungswidrig betrachtet, wenn sie sich gegen eine bestimmte Meinung oder Religion richteten (ANSCHÜTZ, 1965, S. 554 und 662; DREIER, 2018, S. 189-190). Diese inhaltlichen Schranken der allgemeinen Gesetze fanden auch im Bereich der Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art. 142 WRV) Anwendung, auch wenn die jeweilige Grundrechtsvorschrift keinen qualifizierten Vorbehalt enthielt (DREIER, 2018, S. 190).7
5 Soziale Grundrechte
Zwischen Freiheitsgrundrechten und sozialen Grundrechten besteht ein Strukturunterschied. Der Zweck der Freiheitsgrundrechte liegt darin, ein dem Staat vorausliegendes Gut zu schützen, dessen Zugriff sich nur unter bestimmten Umständen als rechtmäßig erweist. Die sozialen Grundrechte streben hingegen die Produktion der Lebensgüter durch gesetzgeberische und faktische Handlungen des Gesetzgebers und der Verwaltung an. Festlegung, Ausgestaltung und Finanzierung der sozialen Grundrechte verlangen eine Gesetzesverabschiedung. Deswegen besitzen sie – im Gegensatz zu den Freiheitsgrundrechte – keine Justiziabilität (BÖCKENFÖRDE, 1992, S. 150).
Mit der Positivierung der sozialen Grundrechte erstrebte aber die Nationalversammlung keine judizielle Effektivierung dieser Rechte. Sie sollten nicht als einklagbare Ansprüche fungieren, was zu <Juridifizierung der politischen Auseinandersetzungen>, richterlicher Übernahme der Rollen des Gesetzgebers und der Verwaltung im Bereich der Haushaltspolitik, das heißt, zu einer Störung der Aufgabenverteilung im gewaltenteilenden Staat, geführt hätte (BÖCKENFÖRDE, 1974, S. 1536; 1992, S. 154). Die Mütter und Väter der Weimarer Reichsverfassung lehnten das Modell eines justizzentrierten Grundrechtsschutzes ab; sie erstrebten gerade die gegenteilige Konzeption: <Grundrechtsverwirklichung durch Volk und Volksvertretungen, nicht gegen Parlamente und Mehrheiten> (GUSY, 2018, S. 251-252, 272). In diesem Zusammenhang dürfte sich die Justiz für die gesetzgeberischen Aufträge einsetzen, erwiese sich aber eine Aufgabenübernahme als unzulässig.
Die sozialen Grundrechte galten damit in Weimar nicht als aktuelles Recht; sie fungierten als bloß Handlungsaufträge. Statt Schranken zu formulieren, beanspruchten die sozialen Grundrechte, dass der Gesetzgeber eine Grundrechtspolitik betreibt, die eine grundrechtsfreundliche Rechtsordnung errichtet. Wenn das Parlament die Handlungsaufträge unterließ, wurde der Empfehlungscharakter dieser Grundrechten sichtbar, da es keinen Durchsetzungsmechanismus dieser Bestimmungen in der Verfassung gab. Die Verwirklichung der sozialen Grundrechte – nach Christoph Gusys Formulierung – „hing (...) auch von politischen Kräfteverhältnissen, Einflüssen und Lagen ab, welche von einer Verfassung – und erst recht einer demokratischen Verfassung – selbst nicht garantiert werden können“ (GUSY, 2018, S.272).
In diesem Kontext stellten die sozialen Grundrechte und die Staatszielbestimmungen der so genannten Weimarer Wirtschaftsverfassung einen Vorgriff in die Zukunft dar. Wie die freiheitlichen Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts hatten die sozialen Grundrechte und die Staatszielbestimmungen eine programmatische Bedeutung und wiesen auf eine <politisch-rhetorische Seite der Verfassung> hin. Man könnte hier – in Anlehnung an Rainer Wahls Ausdruck – von einer <Doppelung der verfassungsrechtlichen Inhalte> (WAHL, 2003, S. 142) der Weimarer Verfassung sprechen, um zwischen nicht-justiziablen Gesetzesprogrammen und -aufträgen und unmittelbaren geltenden, aktuellen, justiziablen Freiheitsgrundrechten zu unterscheiden.
Die Umsetzung der in der Weimarer Verfassung normierten Wirtschafts- und Sozialordnung verlangte nach einer Grundrechtspolitik, sprich einer Gesetzgebungstätigkeit, die Voraussetzung, Inhalt und Umfang der sozialen Leistungsgrundrechte determiniert. Schon bei den ersten Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 verlor die Weimarer Koalition ihre Mehrheit. Das bedeutete nicht, dass danach der Gesetzgeber total untätig geblieben war. Einige Verfassungsaufträge des Zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung wurden konkretisiert. Betriebsrätegesetz (1920), Jugendwohlfahrtsgesetz (1923), Reichsknappschaftsgesetz (1923), die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1927), und die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht (1924) gelten als Errungenschaften der Weimarer Republik (STOLLEIS, 2018, S. 217). Die sozialen Grundrechte liefen nicht leer, ihr Programm erfüllte sich zumindest teilweise (STOLLEIS, 2018, S. 217; GUSY, 2018, S.273).
Aus der Perspektive der Rechtswissenschaft ließ die Weimarer Staatsrechtslehre die sozialen Grundrechte in ihrer Verfassungsdogmatik praktisch außer Betracht. Nicht nur die Konservativen, sondern auch die demokratische Linke nahmen die sozialen Grundrechte mit Zurückhaltung auf (EICHENHOFER, S. 217). Die Leistungs- und Teilhabegrundrechte wurden geringschätzig behandelt, was sich weder als <gesetzespositivistisch geboten> noch als <gerechtfertigt> erwies (SCHLINK, 1989, S. 166). Die rechtswissenschaftliche Forschung den rechtlichen Bindungen der sozialen Grundrechte, auch wenn sie bloß Verfassungsaufträge waren, nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es wurde nicht der Versuch unternommen, die sozialen Grundrechte als <Zielvorgaben für die Gesetzgebung und Auslegungshilfe für die Gesetzesanwendung> zu betrachten (GRIMM, 1987, S. 155). Trotz der Erweiterung des Grundrechtskatalogs in der Weimarer Verfassung schrieb die Staatsrechtslehre ausschließlich den klassischen Freiheitsrechte Rechtscharakter und Wirkungskraft zu (GRIMM, 1987, S. 155; BÖCKENFÖRDE, 1992, S. 156; KOUTNATZIS, 2010, S. 157). Was die Rechtsprechung der sozialen Grundrechte angeht, gab es keine Bestrebungen, die Justiziabilität dieser Gesetzgebungsaufträge anzuerkennen und ihre Einhaltung zu fordern, außerdem ließen die Gerichte die Möglichkeit außer Acht, diese Staatszielbestimmungen als <Leitlinien der Gesetzesauslegung> zu betrachten (GUSY, 2018, S. 273).
6 Fazit
Im Jahr 1919 gelang es der deutschen Staatsrechtswissenschaft nicht, eine dogmatische Darstellung der Grundrechte unter der veränderten Forschungs- und Ordnungsaufgabe zu erarbeiten. Die Staatsrechtlehrer haben sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum für Grundrechte engagiert, da auf Reichsebene die Bismarckverfassung keinen Grundrechtsteil enthielt und die Grundrechte der Länderverfassungen im 19. Jahrhundert als juristisch unnötig betrachtet wurden.8 In diesem Sinne waren die Grundrechte nach Franz von Liszts Ausdruck <gleißende Spielwaren für politische Kinder> (STOLLEIS, 1999, S. 92-93; GUSY, 2018, S. 241). Es hatte sich zu dieser Zeit noch keine Grundrechtsdogmatik entwickelt, die als rechtswissenschaftliche Anwendungshilfe für die neue Rechtspraxis hätte dienen können. Stolleis bemerkt, dass nur „nachdem die Weimarer Verfassung am 1. August 1919 in Kraft getreten war, erschienen die kleinen und großen Kommentare, die ersten Lehrbücher und Repetitorien, (…) und man begann in den Hörsälen der Universitäten zum Ersten Mal, Vorlesungen über Grundrechte zu halten“ (STOLLEIS, 1999, S. 93).
Eine mögliche Erklärung für das Defizit an Grundrechtsdogmatik in der Weimarer Zeit kann auch darin gesehen werden, dass keine Grundrechtsgerichtbarkeit von der Verfassung angeordnet worden war: es fehlte damit <das institutionalisierte Forum> (JESTAEDT, 1999, S. 100), von dem die notwendigen Impulse für diese Gebrauchsjurisprudenz ausgegangen wären. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Systematisierungsversuche des Zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung im letzten Augenblick und nur ausnahmsweise stattfanden. Tatsächlich blieb die wissenschaftliche Behandlung der Grundrechte in der Weimarer Zeit sekundär: „Auch in der Republik stand die Grundrechtsdogmatik eher am Rand der Staatsrechtswissenschaft“ (GUSY, 2018, S. 241).
Auf der Ebene der Grundrechtstheorie betraf zwar der Richtungsstreit in Weimar über Begriff, Geltung, Verständnis und Funktion der Verfassung auch die Grundrechte, die jeweiligen Anschauungen führten aber nicht – so Böckenförde – „zu einer die Rechtsgeltung der Grundrechte verändernden Auffassung und Rechtspraxis“, zu einem wirksamen <Bedeutungswandel der Grundrechte> (BÖCKENFÖRDE, ١٩٩٠, S. ١٣). Nichtsdestoweniger hatten sich im <Weimarer Grundrechtslabor> verschiedenen einflussreichen Grundrechtstheorien entwickelt, die nun im Rahmen des Grundgesetzes Früchte tragen. Wenn man mit Böckenförde Grundrechtstheorien als unabdingbar „systematisch orientierte Auffassungen über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“ (BÖCKENFÖRDE, 1974, S. 1529) versteht und die Notwendigkeit dieser <Reflexionsformen> für die Interpretation der lapidaren und fragmentarischen Grundrechtsbestimmungen unterstellt, dann kann man der Inkubationszeit der Weimarer Republik Rechnung tragen. Doch sind die liberale, institutionelle, demokratisch-funktionale und sozialstaatliche Grundrechtstheorie zumindest in ihren Grundzügen in dem Gesamtzusammenhang der Staatsauffassungen bzw. Verfassungstheorien Weimars konzipiert. Die Grundrechtsdogmatik und die Grundrechtsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes haben durchaus von dem in der Weimarer Zeit theoretischen Ansätzen profitiert.
Um eine gerechte Bewertung der Weimarer Verfassung vorzunehmen, muss man zudem immer im Auge behalten, dass sie nur vierzehn Jahre galt. Außerdem durchlebte die Weimarer Verfassung nahezu kontinuierlich politische Krisen und wirtschaftliche Instabilität, immer ohne eindeutigen Rückhalt in der Gesellschaft zu finden. Wenn wir die Weimarer Verfassung mit dem Grundgesetz in diesem Punkt vergleichen, stellen wir fest, dass das Grundgesetz mit keiner Fundamentalopposition konfrontiert wurde, und, dass es zuerst gesellschaftliche Anerkennung und Wirtschaftswachstum erfuhr, bevor eine gravierende Krise stattfand und die neue Verfassung auf die Probe gestellt worden ist (GRIMM, 1992, S. 30; DREIER, 2018, S. 192).
Zu Recht erinnert uns Horst Dreier, dass zehn Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die Situation der Grundrechtsdogmatik – und auch die Durchsetzungskraft und die Akzeptanz der Grundrechte – weit weg von gesichert war. Nur seit Ende der 60er sei es möglich gewesen, von einer „sicheren Verbürgung und absolut gefestigen Doktrin außerhalb jeden legitimen verfassungsrechtlichen Zweifels“ zu sprechen. Obwohl es sich um Spekulation handele, dürfe man nicht ausschließen, „daß sich in Weimar, eine längere und vor allem weniger krisenhafte Entwicklung vorausgesetzt, sukzessiv bestimmte dogmatische Figuren auch und gerade grundrechtssichernder Art durchgesetzt hätten“ (DREIER, 2004, S. 192; 2018, S. 192).
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1 “Diejenigen Grundrechte der Weimarer Verfassung, die ihren Weg in das Grundgesetz gefunden haben, wurden auch schon in Weimar als aktuelles, geltendes, anwendbares Recht verstanden” (DREIER, 2018, S.179-180)..
2 DREIER zitiert die folgenden Grundrechte, die trotz ihrer <fehlenden Zugehörigkeit zum Klassischen Kanon an verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechten> als unmittelbar geltendes Recht angesehen wurden: Art. 109 Abs. 3 Satz 2 (keine Verleihung von Adelstiteln), Art. 110 Abs. 1 (Staatsangehörigkeit), Art. 110 Abs. 2 (Indigenat), Art. 114 Abs. 2 (Freiheitsentziehung), Art. 116 (nulla poena sine lege), Art. 118 Abs. 2 (Zensurverbot), Art. 128 Abs. 2 (Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte), Art. 129 Abs. 1 Satz 3 (wohlerworbene Beamtenrechte), Art. 131 Abs. 1 Satz 3 (Amtshaftung), Art. 137 Abs. 3 Satz 1 (Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften), Art. 153 Abs. 2 Satz 3 (Rechtsweg bei Enteignungsentschädigung) und Art. 159 (Koalitionsfreiheit) (DREIER, 2004, Rn. 17).
3 „Für den unbefangen Leser des zweiten Abschnittes der Weimarer Verfassung ist die außerordentlich starke Ausdehnung des Gesetzesvorbehaltes in den Grundrechtsnormen sofort auffällig“ (HENSEL, 1929, S. 30).
4 „Die (...) verfassungsändernde Gewalt ist gegenständlich unbeschränkt“ (ANSCHÜTZ, 1965, S. 403).
5 Vgl. auch SCHMITT, 1958, S. 208-209: „Jede gesetzliche Normierung, jede behördliche Intervention, jeder staatliche Eingriff muß prinzipiell begrenzt, meßbar berechenbar, jede staatliche Kontrolle ihrerseits wieder kontrollierbar sein. Immer ist daran festzuhalten, daß Inhalt und Umfang der Freiheit sich nicht aus dem Gesetz ergeben dürfen. Eine Freiheit nach „nach Maßgabe der Gesetze“ ist überhaupt keine Freiheit im liberalen Sinne“.
6 „Schwerlich wird man dem Eindruck verschließen können, daß die für den Gesetzesvorbehaltsbegriff einschlägigen Entscheidungen die Tragweite des rechtsstaatlichen Problems, um das es sich handelt, noch nicht erfaßt haben. Die Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalte weicht m. E. von der sonst vom Reichsgericht eingehaltenen Linie bewußter Aktualitätsbetonung der Grundrechte nicht unerheblich ab“ (HENSEL, 1929, S. 32).
7 Obwohl die Freiheit von Kunst und Wissenschaft ein vorbehaltloses Grundrecht war, nach der herrschenden Meinung kannte die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung keine absolute Schrankenlosigkeit (Dazu s. DREIER, 2018, S. 190).
8 Der programmatische Zweck der Grundrechte wurde schon in der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts verwirklicht (S. dazu LÜBBE-WOLFF, 1990, S. 413).
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ISSN: 2178-2466